Das Bundesgesundheitsblatt publiziert einen homöopathiekritischen Artikel von Norbert Schmacke.
Harald Walach hat ihn ausführlich kommentiert und seine Perspektive auf Artikel und Inhalt dargestellt: Den Kommentar von Harald Walach finden Sie hier.
Das Bundesgesundheitsblatt publiziert einen homöopathiekritischen Artikel von Norbert Schmacke.
Harald Walach hat ihn ausführlich kommentiert und seine Perspektive auf Artikel und Inhalt dargestellt: Den Kommentar von Harald Walach finden Sie hier.
Harald Walach
Die neue Sars-CoV-2 oder Covid-19 Pandemie zeigt uns, dass Epidemien von virulenten Erregern, meistens Viren, aber oft auch Bakterien, immer noch ein medizinisches Problem darstellen. Hatte 1948 der amerikanische Innenmister Marshall noch erklärt, die Welt hätte nun alle Mittel, um Infektionskrankheiten auszulöschen, so hat die Folgezeit alle eines besseren belehrt: Alte Krankheiten, die besiegt geglaubt waren, kommen zurück, neue entstehen und insgesamt sind wir weit davon entfernt, die Erreger im Griff zu haben [1].
Vielleicht müssen wir uns darauf besinnen, dass Erreger, Viren wie Bakterien, eine Art ökologischer Gemeinschaft mit uns bilden und dass es nicht ums Bekämpfen gehen kann, sondern ums Zurechtkommen: durch Stützung unseres Immunsystems und Immunität, zu der auch Impfungen beitragen.
Ganz abgesehen davon, dass wir um eine Zehnerpotenz mehr Bakterien im und auf dem Körper haben als wir Zellen besitzen. Diese sind für unser Wohlergehen essenziell, indem sie zum Beispiel Stoffwechselprozesse im Darm steuern [2]. Daher wird der Homöopathie auch in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen. Denn sie bekämpft naturgemäß nicht Erreger, sondern hilft dem menschlichen Immunsystem, sich zu stabilisieren und gezielt zu reagieren. Wir haben im letzten Teil gesehen, wie die historische Entwicklung war und wollen hier einige neuere Studien besprechen.
In Europa sind Studien zu akuten Infektionen in der neueren Zeit rar. Denn mit dem Aufkommen von Impfungen und antibakterieller Therapie ist der therapeutische Druck verschwunden, der noch Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte. Außerdem ist durch die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Ernährungslage die Bedrohung lange nicht mehr so groß wie zu den Zeiten der großen Epidemien im 19. Jahrhundert.
Eine Ausnahme stellt die Studie von Michael Frass und Kollegen dar, die homöopathische Therapie bei akuter Sepsis untersuchten [3]. Das ist deswegen für unseren Zusammenhang von Bedeutung, weil Sepsis ja eine der gefürchteten Folgen einer bakteriellen Infektion ist. Sie tritt meist dann auf, wenn das Immunsystem mit dem Erreger nicht fertig wird. Die konventionelle Behandlung stößt dann auch an ihre Grenzen und ist nur noch stützend. Nicht selten sind resistente Keime die Ursache, gegen die kein Antibiotikum mehr hilft. Sie entstehen, weil Bakterien Resistenzgene besitzen, die sie unter dem Druck antibiotischer Therapie aktivieren, untereinander austauschen können und weil Bakterien sich so schnell replizieren, dass immer noch ein Stamm, der dann resistent ist, übrigbleibt und sich weiter vermehren kann. [1, 4]
In der Studie am Wiener Allgemeinen Krankhaus wurden 70 Sepsis-Patienten, die in die Intensivstation kamen, zusätzlich zu der üblichen konventionellen Therapie (incl. Antibiotika in beiden Gruppen) entweder mit homöopathischer Therapie nach Arzneimittelwahl des Arztes versorgt oder mit einem Placebo. Die homöopathische Therapie erfolgte natürlich verblindet in der Potenz C200 zweimal am Tag, solange, bis der Patient aus der Intensivstation entlassen wurde oder verstarb. Gemessen wurde die Überlebensrate nach 180 Tagen. Drei Patienten, zwei unter Homöopathie und einer unter Placebo, wurden nicht ausgewertet, weil die Daten nicht vollständig waren. Diese Patienten überlebten. Von den restlichen 33 Homöopathie-Patienten waren nach 180 Tagen noch 25 am Leben, von den 34 Placebo-Patienten noch 17. Dieser Unterschied von 76% vs. 50% ist statistisch signifikant, gerechnet mit einem robusten Test.
Die Studie zeigt, dass Homöopathie offenbar auch heute noch eine wirksame Therapie bei Infektionen sein kann. Interessant an dieser Studie ist die Tatsache, dass die homöopathischen Arzneimittel frei wählbar waren, dass sie in einer hohen Potenz verabreicht wurden und später nichts mehr weiter unternommen wurde. Damit war in dieser relativ langen Beobachtungszeit ein deutlicher Effekt zu sehen, der auf die kurze akute Therapie zurückzuführen ist.
Anders ist die Situation in den ärmeren Ländern. In Indien spielt die Homöopathie auch bei Infektionskrankheiten noch eine Rolle, vor allem bei viralen Infekten, gegen die konventionell wenig therapeutische Möglichkeiten existieren. Auch in Indien war der Erfolg bei den Cholera-Epidemien im späten 19. Jahrhundert einer der Gründe, der dort zur Akzeptanz der Homöopathie führte. Seither gehört die Homöopathie zusammen mit den traditionell in Indien ansässigen Therapieverfahren zum Gesundheitssystem.
Daher hat die Indische Regierung 1991 das Central Council of Research in Homeopathy (CCRH) um Hilfe gebeten, als wieder eine Epidemie von Japanischer Enzephalitis im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh ausbrach [7]. Diese Enzephalitis wird von einem Flavivirus übertragen, einer Gruppe von Erregern, die auch für das berüchtigte Dengue-Fieber verantwortlich ist. In Südostasien kommt dieses Virus häufig vor und wird von Stechmücken übertragen. In Indien tauchten Epidemien regelmäßig auf mit Sterberaten bei den infizierten Kranken um 30% bis 45%, manchmal bis 60%.
In dem vorliegenden Bericht wurde für die laufende Epidemie eine Mortalitätsrate von 21% ermittelt. Anhand der Symptome von 239 hospitalisierten Fällen wurde das epidemische Arzneimittelbild ermittelt, das in diesem Falle Belladonna als das Arzneimittel mit der besten Passung ergab. Das ist, wie wir im letzten Beitrag gesehen haben, die Gesamtheit der Symptome einer epidemischen Erkrankung über alle Personen hinweg, wie Hahnemann das in den §§100-102 seines Organons beschrieben hatte. Mit dieser Arznei in C200 Potenz wurden dann 322.812 Personen präventiv behandelt, die in Dörfern lebten, die am schlimmsten von der Epidemie betroffen waren. Das Follow-up wurde leider nur bei etwa 10% oder 39.250 Personen durchgeführt. Von diesen erkrankte niemand ernsthaft, nur 14 Personen hatten angeblich leichte Symptome, die nach ein paar Tagen wieder verschwanden.
Dies ist nun wahrhaftig kein sonderlich robuster Datensatz. Aber er zeigt, dass die prophylaktische Verwendung, die schon Hahnemann in seinem Organon beschrieben hat – siehe der letzte Beitrag dieser Serie – immer noch von Bedeutung ist und offenbar funktionieren kann, wenn das epidemische Bild sehr klar ist.
Eine neuere Übersicht zeigt, dass diese Ansätze auch heute noch in Indien mit Erfolg durchgeführt werden. Homöopathische Therapie zusammen mit konventionellem Management von akut erkrankten Patienten mit Japanischer Enzephalitis zeigte eine Verringerung von Morbidität und Mortalität um 31% [8].
Dengue-Fieber wird von der gleichen Virusgruppe übertragen, ebenfalls über Moskito-Stiche. Es gehört zu den Fieber-Erkrankungen, die schwere Komplikationen wie Schock und innere Blutungen auslösen können. Es gibt zwar einen Impfstoff. Aber der ist nicht überall zugelassen und auch nicht überall vorrätig.
Auch bei dieser Erkrankung gab es einige dokumentierte homöopathische Therapie- bzw. Präventionsstudien. Eine der wenigen vergleichenden Therapiestudien führten pakistanische Forscher mit einer kleinen Gruppe von Patienten mit Dengue-Fieber durch [9]. Sie verwendeten eine homöopathische Kombinationsarznei, die diejenigen Arzneimittel in C30 enthielten, die zu dem Symptomenbild von Dengue-Fieber passen: Eupatorium, Rhus toxicodendron, Aconitum, Gelsemium, Bryonia, China, Crotalus horridus, Colocynthis, Phosphor.
Diese Intervention wurde mit dem konventionellen Behandlungsprotokoll allein verglichen, das selbstverständlich auch die Patienten der Homöopathie-Gruppe erhielten. Die Studie war mit 50 Patienten sehr klein und es ist nicht klar, wie die Gruppenverteilung durchgeführt wurde. Gemessen wurden drei objektive Kriterien, die Anzahl der Blutplättchen, die Anzahl der weißen Blutkörperchen und der Hämatokritwert, die den Verlauf des Fiebers markieren und z.B. problematische Entwicklungen wie innere Blutungen signalisieren. Die Werte verbesserten sich in beiden Gruppen, aber in der homöopathisch behandelten Gruppe signifikant stärker.
In Brasilien wurden zwei Studien zu prophylaktischer Behandlung bzw. Therapie von Dengue-Fieber publiziert. In der ersten Studie [10] wurde ein Kombinationsarzneimittel in einem Bezirk von Rio de Janeiro verwendet, das die wichtigsten Symptome abdeckte. Es bestand aus Eupatorium perfoliatum, Phosphor und Crotalus horridus, alle in der C30. Eupatorium trifft dabei vor allem die akute erste Phase mit Gliederschmerzen, die sich anfühlen wie zerschlagen, Fieber, Müdigkeit und der Schwierigkeit zu atmen. Phosphor ist in einen späteren Zustand passend, wenn Blutungen und Lungenprobleme auftauchen und Crotalus horridus, das aus dem Gift der Klapperschlange gewonnen wird, trifft den Zustand des Schocks und der schweren inneren Blutung, weil sich die Gerinnungsfähigkeit des Blutes verändert.
Mit diesem Arzneimittel wurden 129 symptomatische Patienten behandelt, die innerhalb von 5 Tagen genasen und von denen keiner starb. Normalerweise ist die Rekonvaleszenz 8 Tage und Todesfälle sind keine Seltenheit. Außerdem wurde es prophylaktisch an 156.000 Einwohner des auf 180.000 Einwohner geschätzten Bezirkes verteilt. Die Erkrankungszahlen wurden mit denen früherer Jahre und angrenzender Bezirke verglichen. Sie waren deutlich niedriger.
Während diese Studie methodisch nicht sonderlich eindeutig ist, ist die zweite klarer in ihren Vergleichen [11]. Hier wurde, ebenfalls prophylaktisch gegen Dengue-Fieber, Eupatorium C30 an 2000 Bewohner und damit 40% eines Bezirkes von São Paulo mit 4850 Einwohnern ausgegeben. Allerdings wurden die Erkrankungszahlen hier mit Hilfe eines Registers mit den Zahlen der umliegenden Distrikte verglichen und eine Rückgangsfaktor-Berechnung gemacht. Dabei wird die Anzahl der Fälle, die zu den Hochzeiten der Infektion gemessen wurden, mit denen danach verglichen und der prozentuale Rückgang berechnet. Während die Fallzahlen im behandelten Bezirk um 81% sanken, waren das in den angrenzenden Bezirken nur 10% bis 48%, was den Rückgangsfaktor im behandelten Bezirk statistisch deutlich grösser macht. Interessant daran scheint mir zu sein, dass dies trotz der nicht vollständigen Behandlung funktioniert hat.
Eine letzte Studie dieser Art stammt aus Cuba und verfolgte einen anderen Ansatz [12]. In Cuba, wie in anderen tropischen Ländern auch, spielt die Leptospirose als Infektionskrankheit eine große Rolle. Sie kann schwere Enzephalitis, Lungenentzündung und Sepsis auslösen. Verursachend dabei ist ein Bakterium, eine Spirochäte, also die Gruppe von Bakterien die auch für Syphilis oder Borreliose verantwortlich ist. Es kommt dort, ohne Symptome zu verursachen, in Wirtstieren wie etwa Hunden, Pferden, Mäusen und Ratten vor.
Wenn es sehr feucht ist und überall viel Wasser herumsteht, können sich die Spirochäten aus dem Urin der Tiere dort im Wasser halten und Menschen über Wunden oder Schleimhautkontakt infizieren. Es gibt an sich in Cuba und anderswo eine Impfung gegen diese Krankheit. Aber zum einen ist sie nur in 78% der Fälle wirksam und zum anderen war es in Cuba offenbar nicht möglich, diese Impfung allen angedeihen zu lassen. Auch Chemoprophylaxe mit Antibiotika ist möglich, aber durch die kurze Halbwertszeit der Antibiotika muss diese relativ lang durchgeführt werden und auch das war offenbar zu dieser Zeit in Cuba nicht möglich.
So wurde in dieser Studie von einem riesigen nationalen Experiment berichtet, weil im Jahr 2007 durch Tornados und Regenfälle die Lage rasch eskalierte. Der östliche Landesteil mit 2.5 Millionen Einwohnern wurde zur Interventionsgegend erklärt, der westliche Landesteil mit etwas mehr als 8.8 Mio Einwohnern war die Vergleichsgegend, in der nichts passierte. Etwa 3% der Menschen in der Interventionsgegend erhielten Impfung und Chemoprophylaxe. Alle erhielten eine homöopathische Prophylaxe.
In diesem Fall bestand sie aus einer sog. Nosode aus verschiedenen Leptospirochäten. Nosoden sind Arzneimittel, bei denen entweder die Erreger selber oder Krankheitsmaterial von Patienten potenziert werden. In dieser speziellen Arznei waren es vier verschiedene Spirochätenstämme, die als ursächlich in Frage kommen. Sie wurden inaktiviert und potenziert. Die Betroffenen erhielten im Abstand von 7-9 Tagen zwei Dosen des Arzneimittels in der C200 und danach zwei Dosen der Potenz C10.000 als präventive Gabe.
Das Interessante an dieser Studie ist, dass es in Cuba zwar offenbar zu wenig Geld für Impfungen, dafür aber ein sehr gut funktionierendes System der Gesundheitsdokumentation gibt. Denn die Fälle in den verschiedenen Landesteilen wurden akribisch aufgezeichnet und so konnte auch eine gute statistische Modellierung durchgeführt werden. Sie zeigt, dass in der Interventionsregion die Anzahl der Fälle 2008 nur 16% von denen im Jahr 2007 im vergleichbaren Zeitraum ausmachte, während sie in der Vergleichsregion auf 122% verglichen mit dem Vorjahr angestiegen ist. Die Zeitreihenmodellierung zeigt einen klar gebrochenen Zeittrend des Anstieges. War das nun Folge der 3% der Bevölkerung, die geimpft waren? Vermutlich reicht das nicht, um den Rückgang zu erklären. Denn die Fallzahlen waren in den durchgeimpften Dörfern trotzdem hochgegangen.
Ein solches nationales Experiment wäre klarerweise in unseren politischen Systemen völlig undenkbar. Daher ist es auch ein einmaliger Datensatz, der zeigt, dass man mit potenzierten Substanzen Prophylaxe betreiben kann. Allerdings lehrt die homöopathische Praxis, dass man mit der Anwendung von Nosoden vorsichtig sein muss. Wenn man sie bei bereits Erkrankten verwendet, kann der Schuss nach hinten losgehen und die Krankheit sich verschlimmern. Daher ist der klassische Ansatz immer noch der, mit dem epidemisch indizierten Arzneimittel, oder vielleicht auch einer Kombination von diesen zu arbeiten.
Das könnte unter Umständen auch in der jetzigen Situation von Bedeutung sein. Das epidemisch relevante Arzneimittel für die Covid-19-Pandemie ist noch nicht klar. Dazu ist die Zeit noch zu kurz. Derzeit laufen einige Dokumentationsprojekte, über die wir im nächsten Teil berichten, sobald wir Daten haben. Offenbar spielen auch bei dieser Epidemie die homöopathischen Infektionsklassiker – Gelsemium, Bryonia, Phosphor, Eupatorium, vielleicht Lobelia purp. und im Iran Camphora – eine Rolle. Aber das werden wir sehen.
Wenn Sie als Arzt bereits Fälle gesehen und behandelt haben, können sie diese gerne mitteilen an
blog-wissenschaftskommunikation@wisshom.de
Wir reichen die Fallbeschreibung dann an ein Team von Ärzten weiter, die sich mit der Ermittlung des Genius epidemicus befassen.
Das wären die wichtigen Informationen, die man benötigen würde:
Wie viele Fälle? – Sind sie durch Test bestätigt oder ist die Diagnose klinisch? – Was waren die genauen Symptome (und Modalitäten)? – In welcher Reihenfolge sind sie aufgetreten? – Wurde behandelt? – Mit welchem Mittel / welchen Mitteln? – Ggf. andere zusätzliche Behandlungen? – Behandlungsergebnis? – Innerhalb welcher Zeit trat ggf. eine deutliche Besserung ein?
Aber bitte seien Sie vorsichtig:
Die ambulante Behandlung von COVID-19 Patienten birgt die Gefahr der unerkannten manchmal rasch auftretenden Atemnot. Da ist erhöhte Wachsamkeit gefordert, zumal viele Behandlungen telefonisch stattfinden werden. Bitte zögern Sie ggf. auch nicht mit der Krankenhaus-Einweisung! Selbstverständlich müssen die Schutz- und Quarantänemaßnahmen beachtet werden. Mit der häufig empfohlenen Einnahme von Antipyretika und der so genannten „Grippemittel“ sollten die Patienten allerdings eher zurückhaltend sein! – Die Senkung von Fieber ist nicht unbedingt abwehrsteigernd.
Harald Walach
Viele meinen, Homöopathie hätte nur einen Platz in der Behandlung einfacher oder funktioneller und chronischer Erkrankungen. Blickt man in die Geschichte, dann sieht man, dass die Homöopathie vor allem durch die Behandlung der epidemischen Erkrankungen bekannt und erfolgreich wurde und auch manchmal prophylaktisch angewandt werden kann.
Bereits Hahnemann beschreibt in seinem Organon [1, Anm. 64 zu §33, S. 180], dass er in Königslutter im Jahre 1801 allen Kindern eine kleine Gabe Belladonna gegeben habe und beobachtet habe, dass sie so vom grassierenden Scharlachfieber frei blieben. Weil das Arzneimittelbild von Belladonna – der heiße rote Kopf, das meistens am Abend oder späten Nachmittag rasch einsetzende hoher Fieber, oft auch gerötete Haut und manchmal deliröse Zustände – relativ gut auf die Symptomatik von klassischem Scharlach passt, war diese Anwendung aus Hahnemanns Sicht auch arzneimitteltypisch. Daher finden sich bei den Indikationen für Belladonna in den homöopathischen Arzneimittellehren typischerweise Scharlach und ähnliche Fiebererkrankungen [2, 3]. Haehl schreibt dazu in seiner Hahnemann-Biografie, dass die Prävention mit Belladonna doch so erfolgreich war, dass die preußischen Behörden auch noch bei einer späteren Scharlach-Epidemie auf diese Prophylaxe zurückgriffen. [4]
Ursprünglich waren es vor allem die Erfolge der Homöopathie bei der Bekämpfung der großen Epidemien des 19. Jahrhunderts, die der Homöopathie Beachtung, Einfluss und schließlich Akzeptanz verschafften. In Österreich, Russland und in England waren es die Erfolge bei der Behandlung der Cholera-Epidemie, die die Homöopathie dort Fuß fassen ließen. In Österreich war die Homöopathie 1819 verboten. Trotzdem ließen sich manche behandeln, vor allem Adelige, aber auch andere. Der Erfolg führte zur Aufhebung und des Verbots und zur Verbreitung der Homöopathie.
Denn während normalerweise zwischen 60 und 70% starben – Zahlen für unbehandelte Verläufe in Russland sprechen von 67% und unter konventioneller Behandlung waren diese eher höher – starben unter homöopathischer Behandlung 4-11% der Patienten [5, 6]. Auch in England lagen 1854 die Sterblichkeitsziffern unter homöopathischer Behandlung weit unter 20% und waren damit deutlich niedriger als unter konventioneller Behandlung [7].
Woran lag das? Die skeptische Sicht lautet: Weil konventionelle Behandlung gefährlich war und die Homöopathen all die konventionellen Behandlungen ablehnten. Die konventionelle Behandlung bestand im Aderlass und in der Verweigerung des Wassers, weil man die Krankheit „austrocknen“ wollte. Die Homöopathen hingegen gaben den Kranken Wasser ad libitum und verhinderten so die tödliche Dehydrierung und unterließen den schwächenden Aderlass. Dazu gaben sie auch noch ein paar Arzneimittel, meistens Campher und Arsenicum album.
Ob diese Arzneimittel wirklich so effizient waren, weiß man nicht. Denn ein neuerer Versuch in Peru, der diese ursprüngliche Behandlung überprüfen wollte, zeigte keinen Unterschied zwischen Homöopathie und Placebo [8], nachdem eine Pilotstudie vielversprechend war [9]. Im Moment ist also mindestens was die Cholera-Behandlung angeht unklar, ob die homöopathischen Kügelchen zum Durchbruch geführt hatten oder die Vermeidung schädlicher Maßnahmen.
Allerdings gibt es auch historische Daten zu anderen Infektionsepidemien, die anhand der Akten des homöopathischen Krankenhauses in London zeigen, dass die homöopathische Behandlung von epidemischen Erkrankungen wie etwa Diphterie oder Tuberkulose erfolgreicher war als in den konventionellen Krankenhäusern [10].
Daher kann man vermuten, dass manches an der homöopathischen Behandlungsweise hilfreich war. Diese frühen Behandlungen fanden ja zu Zeiten statt, als oft nur vermutet wurde, dass Bakterien die Erreger sind. Der Nachweis dazu gelang erst Koch in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts [11].
Da für virale Krankheiten auch heute noch oft keine gute Behandlungsmöglichkeit existiert und gegen Bakterien erst in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts Antibiotika verfügbar wurden, blieb die Homöopathie lange Zeit eine wichtige therapeutische Möglichkeit. Vor allem bevor es Impfungen für die gefährlichsten epidemischen Erkrankungen gab.
Für die große Grippe-Epidemie im Jahre 1918, die weltweit wohl etwas über 20 Millionen Todesopfer forderte, gibt es nur wenig gute Daten. Eine Statistik, die der amerikanische Professor für Materia-Medica, Dewey, zusammengestellt hat, zeigt, dass die Sterblichkeitsrate bei Patienten, die von Homöopathen behandelt wurden, relativ niedrig waren. Eine Studie in Ohio an 24.000 Patienten, die konventionell versorgt wurden, ergab eine Sterblichkeit von 28%. Die Mortalitätsrate der homöopathisch versorgten Patienten lag je nach Region zwischen 0,01 und 1,05%. [nach 12]
Damals, wie schon zu Hahnemanns Zeiten, wurde die Verordnung nach dem sog. „genius epidemicus“, nach dem epidemischen Zustandsbild vorgenommen. Dieses Prinzip beschreibt Hahnemann in den §§100-102 seines Organons [1]. Normalerweise wird ja in der Homöopathie das Prinzip angewandt, dass das Arzneimittel passend zu den individuellen Symptomen gewählt wird.
Im Falle einer epidemischen Erkrankung geht man jedoch davon aus, dass das typische Arzneimittelbild vom Typ der jeweiligen Epidemie bestimmt wird. Dieses Bild zeigt sich, wenn man mehrere Kranke, die an der gleichen epidemischen Erkrankung leiden, vergleicht. Bei der großen Influenza-Epidemie von 1918 war das in den USA in den Anfangsphasen Erkrankung fast ausschließlich das Bild von Gelsemium, in späteren Phasen, wenn etwa die Lunge betroffen war, kamen dann manchmal noch Phosphor oder Bryonia hinzu. Gelsemium zeichnet sich aus durch dunkelrote Gesichtsfarbe, starke Kopfschmerzen, manchmal auch Schmerzen hinter den Augen, Halsschmerzen beim Schlucken, oft auch Schwindeligkeit und große Müdigkeit. Das waren offenbar bei dieser Epidemie die zentralen Symptome und daher half Gelsemium sehr gut [12].
Ein Bericht eines schwedischen Arztes zeigt, dass dieses Symptomenbild in Europa offenbar etwas anders war. Er berichtet über die Verwendung von Aconit und Belladonna, Bryonia, Rhus toxicodendron, Ipecacuanha und Phosphor. Aber auch er schließt mit der Beobachtung, dass unter seiner homöopathischen Behandlung niemand an Lungenentzündung gestorben sei, sehr wohl aber im Umfeld unter anderen Behandlungen [13]. Sjögren berichtet auch darüber, dass er manchmal zwei Arzneimittel im Wechsel verwendete, was bei manchen akuten Verordnungen auch heute noch gemacht wird.
Wenn wir in die Geschichte blicken sehen wir also: Homöopathie hatte immer schon einen wichtigen Stellenwert in der Behandlung infektiöser, akuter Erkrankungen. Darin war sie erfolgreich und so hat sie eigentlich auch ihren Ruf begründet. Aber wie konnte das wirken? Doch sicher nicht durch eine direkte antibiotische oder antivirale Aktivität?
Da wir keine gute Theorie der Homöopathie haben, wissen wir es natürlich nicht. Aber es ist zu vermuten, dass der Effekt vor allem daher kommt, dass die homöopathische Behandlung das Immunsystem stimuliert und ihm hilft, die entsprechenden Reaktionen schneller oder effizienter zu lancieren, oder vielleicht auch die Entzündung rechtzeitig zu begrenzen, so dass der Erreger vom Immunsystem eliminiert wird, ohne dass die begleitenden Entzündungsreaktionen den Organismus zu sehr belasten. [14] Die Anhänger der Placebo-Theorie der Homöopathie [15] können ja überlegen, ob ein Placebo-Modell – also Beruhigung, Entspannung, positive Erwartungen – ausreichend sind, um den Erfolg einer Therapie im akuten Infektionsfall zu erklären
Daher dürfte Homöopathie auch heute noch in der Therapie akuter Infektionen eine Rolle spielen, vor allem dort, wo eine konventionelle Behandlung durch antibakterielle oder antivirale Arzneimittel nicht möglich ist, entweder weil es sie nicht gibt oder weil sie nicht (mehr) gut wirkt, z.B. wegen Resistenzbildung, oder weil wir, wie heutzutage mit dem neuartigen Corona-Virus, noch keine Behandlung oder gar eine Impfung zur Verfügung haben.
Eine andere Rolle für die Homöopathie bei der Behandlung von Infektionskrankheiten könnte etwa auch in den tropischen Ländern zu finden sein, wo sich verschiedene virale Erkrankungen durch Insekten verbreiten, für die es keine guten Behandlungsmöglichkeiten gibt. Aber auch in unseren Breiten gibt es immer wieder Bedarf. Denn auch wenn antibiotische Behandlungen bei bakteriellen Erkrankungen gut helfen, so besteht doch die Gefahr, dass Infekte immer wieder kommen, dass Kinder anfälliger dafür werden, weil die Darmsymbiose gestört wird und vor allem, weil bei kleinen Kindern die meisten Infekte viraler Natur sind.
Oft sind es harmlose Rhino- oder bekannte Corona-Viren, gegen die man wenig machen kann. Jedenfalls wissen wir, dass bei Kindern antibiotische Behandlung von Atemwegsinfekten und Harnwegsinfekten langfristig relativ wenig fruchten [16, 17] und dass antibiotische Behandlung mit anderen Problemen, wie späteren entzündlichen Darmerkrankungen assoziiert sind [18].
Umgekehrt zeigen manche Studien, dass homöopathische oder anthroposophische Therapien verglichen mit Antibiotika gut abschneiden, manchmal sogar besser sind [19-23]. Dieses Feld gehört sorgfältig durch pragmatische randomisierte Studien untersucht. Denn im Moment gibt es dazu nur sehr wenig gute Daten, die keine endgültigen Schlüsse zulassen [24].
Wir sehen an der Geschichte und an der momentanen Praxiserfahrung: Homöopathie hat bei akuten Infekten, auch bei schweren, durchaus einen Platz, wenn es keine konventionellen Optionen gibt oder wenn diese aus anderen Gründen nicht angesagt sind. Wie sich homöopathische Therapie von Infekten und eine mögliche Prophylaxe in neueren Studien darstellt, besprechen wir im nächsten Teil dieser Serie. Möglicherweise gibt es bald auch ein paar Erfahrungen mit der neuen Covid-19 Epidemie, die wir dann im dritten Teil beschreiben.
Harald Walach
Weil ich in Debatten immer wieder die gleichen falschen Aussagen höre, stelle ich sie hier einmal zusammen mit den entsprechenden Argumenten, Daten und Fakten: Irrtümer, die über die Homöopathie geäussert werden, meistens mit entsprechenden Irrtümern über die Medizin gepaart. Ich hoffe, das entspannt die Debatte, die ich als unnötig polarisiert und wenig konstruktiv wahrnehme. Es geht weiter mit
Die Homöopathie ist in ihrem theoretischen Modell im 18. Jahrhundert stecken geblieben, die moderne Medizin hingegen hat ein klares wissenschaftliches Modell der Theorie- und Therapieentwicklung
Die Homöopathie ist in der Tat ein Kind des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung und des Versuchs, medizinische Praxis auf rationale, d.h. in diesem Falle empirisch beobachtbare Grundlagen zu stellen. Sie ist eine rein empirisch gefundene und weiter entwickelte Methode. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Die Stärke: Sie ist der Erfahrung verpflichtet. Die Schwäche: Sie hat keine wirklich gute Theorie, die ihre Wirkweise verstehen lassen könnte. Dass sie sich seither nicht weiterentwickelt hätte, wie oft zu hören ist, ist hingegen falsch. Die Homöopathie hat die Methode der Entdeckung von Arzneimitteln, die homöopathische Prüfung am Gesunden, verfeinert.1-3 Dabei nehmen Freiwillige homöopathische Substanzen zu sich und beobachten die Veränderungen, die dabei auftreten. Während bei Hahnemann und seinen Schülern diese Versuche noch ohne Verblindung und Kontrollen und oft mit niedrig potenzierten und giftigen Stoffen durchgeführt wurden, werden solche Versuche heutzutage in aller Regel verblindet gemacht – d.h. die Prüfer wissen nicht, was sie zu sich nehmen, oder wenn sie die Substanz kennen, die geprüft wird, wissen sie nicht, ob sie in der Versuchs- oder Kontrollgruppe sind. Es gibt klare Regeln, die sich im Laufe der Praxis gebildet haben, wann man davon ausgeht, dass ein beobachtetes Symptom von einer Prüfssubstanz herrührt und wann nicht: z.B. wenn das Symptom dem Prüfer vorher unbekannt war, also noch nie so etwas erlebt hat und in deutlicher zeitlicher Nähe zur Einnahme stand; wenn es wiederholt bei verschiedenen Prüfern vorkommt; wenn ein lange bereits bestehendes Symptom plötzlich und dauerhaft verschwindet; um nur ein paar wichtige Regeln zu nennen.4,5 Und ausserdem müssen dann diese Symptome in der klinischen Praxis bestätigt werden. Das bedeutet, sie müssen dazu führen, dass das Arzneimittel dann auch im Krankheitsfalle therapeutisch wirkt. Daher ist das Vorgehen zirkulär und hat viel Ähnlichkeit mit der Methode der qualitativen Sozialforschung (wie sie etwa in der „Grounded Theory“ sichtbar wird6): Symptome werden in Arzneimittelprüfungen dokumentiert. Sie werden dann beim Kranken zur Arzneimittelfindung verwendet. Und wenn sie sich bewähren, gehen sie in die sog. Materia Medica, also den Arzneimittelbestand und die Repertorien ein, die Verzeichnisse, mit denen Arzneimittel gefunden werden. Damit hat die Homöopathie ein klares, empirisch-fundiertes methodisches Modell.7 Sie hat in der Tat keine gute Theorie.
Aber auch an anderen Stellen hat sich die Homöopathie weiter entwickelt:
Aber auch die Verschreibungstechniken insbesondere bei chronischen Erkrankungen haben sich deutlich weiter entwickelt; die gegenwärtige Vielfalt der Ansätze zeigt allerdings auch, dass es offenbar noch ungeklärte Fragen gibt.
Die moderne Medizin orientiert sich an dem theoretischen Modell, das durch Descartes eingeführt wurde und von Virchow kodifiziert wurde8,9. Es betrachtet den Organismus als Maschine und Krankheit als zelluläre, mittlerweile enzymatisch oder genetisch dingfest zu machende Störung dieser Maschine. Daraus leitet sich ab, dass man zuerst versuchen muss, diesen Fehler zu finden und ihn dann zu beheben, etwa, indem man chirurgisch oder pharmakologisch eingreift. Der Organismus wird dabei eher als passiv zu Beeinflussendes gesehen. Dies halte ich für eine nützliche Abstraktion, die aus der Entstehungsgeschichte der modernen westlichen Medizin her gut verstehbar ist und die im Akutfall auch bestens funktioniert. Diese Medizin entstand ja aus der Akutversorgung von Menschen, die im Krieg verletzt wurden, von Infektionskranken und akut Erkrankten, deren Leben bedroht war. In all diesen Fällen ist dieses Denken sehr nützlich, wie uns die großen Erfolge der akuten und Notfallmedizin zeigen.
Allerdings hat sich die Theoriebildung weiterentwickelt. Der menschliche Organismus, so hat sich gezeigt, ist keine passive Maschine, sondern ein höchst aktives System. Die moderne Theorie nicht-linearer und komplexer Systeme, die sich in den letzten 20-30 Jahren in der Biologie allmählich breit macht, hilft dies zu verstehen10,11. Als Resultat dieses Verstehens zeigt sich: Der Organismus reagiert nie passiv auf irgendeine Intervention, sondern immer aktiv. Daher haben alle Reize – das Eindringen immunologischer Fremdkörper, wie Bakterien oder Viren, die Einnahme einer pharmakologischen Substanz – zunächst einmal unmittelbare Erst-Wirkungen. Sie haben aber auch mittelbare Zweit-Wirkungen. Das ist das, was der Organismus daraus macht: Die Entzündung, die er in die Wege leitet, um mit dem immunologischen Fremdkörper fertig zu werden, oder die Gegenregulation auf den pharmakologischen Reiz. Diese komplexe Systemdynamik lässt sich mit Hilfe der einfachen Maschinenmodelle, die immer noch in den Köpfen der Meisten herumspuken, nicht mehr adäquat theoretisch begreifen12. Zugespitzt formuliert: Die moderne Medizin folgt immer noch einem theoretischen Paradigma, das im 16. Jahrhundert gegründet wurde, im 19. Jahrhundert verfeinert wurde und im wesentlichen die modernen Entwicklungen der Theoriebildungen ignoriert. Das geht gut, solange man sich nur um akute Probleme zu kümmern hat. Das funktioniert weniger gut bei allen anderen Problemen. Und das sind etwa 70-80% aller Probleme, deretwegen Menschen heute Ärzte aufsuchen.
In diesem Sinne ist vielleicht die Homöopathie sogar die implizt fortschrittlichere Methode. Denn sie gibt gar nicht erst vor in einen maschinellen Vorgang einzugreifen, den es so ohnehin nicht gibt, der nur eine Abstraktion auf einer bestimmten Handlungsebene ist. Folgt man den modernsten Theoriebildungen, dann ist die Homöopathie eher als eine Regulationstherapie einzustufen, die den Organismus zu therapeutischer Selbstregulation anregt13. Denn sie greift auf keinen Fall molekular ins physiologische Geschehen ein. Das, was ihr viele Kritiker zum Vorwurf machen, ist am Ende sogar ihr großes Plus?
Weil ich in Debatten immer wieder die gleichen falschen Aussagen höre, stelle ich sie hier einmal zusammen mit den entsprechenden Argumenten, Daten und Fakten: Irrtümer, die über die Homöopathie geäußert werden, meistens mit entsprechenden Irrtümern über die Medizin gepaart. Ich hoffe, das entspannt die Debatte, die ich als unnötig polarisiert und wenig konstruktiv wahrnehme. Es geht weiter mit
von Susann Buchheim-Schmidt
Lebostein 21.03.2014
Die Homoöpathie-Freunde regen sich immer über die Geldschneiderei der klassischen Medizin auf. Dabei ist das bei der Homoöpathie viel schlimmer. Das ist ein Riesengeschäft und eine riesige Abzocke! Da wird Wasser und Zucker für ordentlich Geld verkauft…
Fakt ist, dass es sich dabei um Arzneimittel handelt, die behördlich reguliert sind und diversen rechtlichen Anforderungen, wie z.B. dem Arzneimittelgesetz, den hohen Anforderungen an die „Gute Herstellungspraxis“ (GMP) und vielen weiteren – auch europäischen Regularien – genügen müssen.
Die Herstellung von Homöopathika unterscheidet sich bzgl. der gesetzlichen Anforderungen an den Herstellungsprozess in keiner Weise von der Herstellung herkömmlicher Arzneimittel.
Die Ausgangsstoffe müssen zunächst entweder selbst angebaut oder beschafft werden. Dies ist vielen Regularien, wie z.B. Anforderungen an Saatgut und Anbau, Verzicht auf den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, Dokumentation etc. unterworfen.
Vor der eigentlichen Herstellung müssen sämtliche Ausgangsstoffe geprüft werden und den Arzneibuchanforderungen (Homöopathisches Arzneibuch/ Europäisches Arzneibuch) entsprechen. Die aus den Ausgangsstoffen hergestellten Urtinkturen werden vor der Weiterverarbeitung ebenfalls geprüft, dazu sind bis zu 10 teilweise aufwändige analytische Untersuchungen nötig. Das unterscheidet Homöopathika in keiner Weise von Arzneimitteln der konventionellen Medizin.
Im Gegenteil: Die Prüfung von Pflanzenmaterial ist teilweise aufwändiger und komplexer als die von chemisch genau definierten Ausgangsstoffen.
Der weitere Herstellungsprozess, die Verreibung bzw. Verschüttelung der Ausgangsstoffe (das sogenannte Potenzieren) zum fertigen Produkt, muss selbstverständlich auch den hohen Qualitätsanforderungen an die Arzneimittelherstellung entsprechen und aufwändig kontrolliert und dokumentiert werden.
Teuer ist bei der Herstellung nicht allein das Ausgangsmaterial sondern insbesondere die Hilfsstoffe wie z.B. Ethanol, der gerade bei hohen Potenzen in größeren Mengen anfällt: Potenziert wird nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Homöopathischen Arzneibuch (HAB) im Regelfall nicht mit Wasser, sondern mit Ethanol-Wasser-Gemischen. Dabei werden für jeden Potenzierungsschritt größere Mengen an Alkohol (je nach Potenz 51-90 Vol%) verbraucht, der wiederum den pharmazeutischen Qualitätsanforderungen entsprechen muss und nicht gerade preiswert ist. Für jeden Potenzierungsschritt muss bei der in Deutschland vorgeschriebenen Mehrglasmethode zudem ein neues Arzneigläschen verwendet werden.
Die Annahme, dass man mit wenig Ausgangsstoff genug Material für alle Zeiten hätte, ist ebenfalls falsch. Tatsache ist, dass die Haltbarkeit homöopathischer Arzneimittel genau wie die in der konventionellen Medizin max. 5 Jahre beträgt. Auch die Haltbarkeit von Urtinkturen als Ausgangsmaterial ist begrenzt.
Bevor jedoch ein Homöopathikum überhaupt industriell im hergestellt werden kann, muss es von der Behörde registriert werden oder – sofern es eine Indikation beansprucht – zugelassen werden.
Für die Registrierung eines Mittels müssen Dokumente vorgelegt werden, die die Sicherheit des Arzneimittels belegen, dazu sind aufwändige Recherchen im Bereich Toxikologie notwendig. Auch muss bei Registrierungen die homöopathische Verwendung des Mittels belegt werden, mittlerweile z.B. mit zwei Arzneimittelprüfungen, für die die gleichen rechtlichen Anforderungen wie für klinische Prüfungen gelten (Votum der Ethikkommission, Prüfarzt, Probandenversicherung, etc.).
Wenn eine Indikation angegeben werden soll, muss eine Zulassung beantragt werden und dann ist der Aufwand noch wesentlich größer, denn es müssen – ebenso wie für konventionelle Präparate – Studien vorgelegt werden.
Tatsache ist, dass schon die Registrierung eines einzelnen Mittels viele Tausend Euro kostet; dass jede Änderung eines Beipackzettels bei der Behörde angezeigt werden muss und diese berechnet dafür wiederum eine Gebühr.
Demgenüber steht, dass viele der über 1000 Einzelmittel (ABDA-Datenbank) nur selten verwendet werden. Bei manchen Präparaten werden weniger als 10 Packungen im Jahr verkauft und die Hersteller haben diese nur in ihrem Sortiment um den Patienten und Therapeuten ein vollständiges Set an Mitteln in verschiedenen Potenzen anbieten zu können. Ausnahmen wie die sogenannte „1000er Regel“ sind in diesen Fällen zwar nach AMG auch möglich, aber auf viele Einzelmittel nicht anwendbar.
Der Verbrauch ist – insbesondere bei Hochpotenzen – ja sehr gering, weil nur wenige einzelne Globuli in großen Abständen verabreicht werden.
Richtig ist, dass die Entwicklung eines neuen Arzneimittels im konventionellen Bereich viele Millionen Euro kostet. Allerdings sind diese Mittel dann auch patentierbar und die Gewinnspannen ungleich höher als bei Homöopathika.
Tatsache ist letztendlich auch, dass für homöopathische Arzneimittel, in Deutschland die gleichen Anforderungen an die Erfassung, Bewertung und Dokumentation von Arzneimittelrisiken gelten wie für die konventionellen Arzneimittel, egal ob die Mittel zugelassen oder registriert sind. Diese Anforderungen an die Arzneimittelsicherheit sind mit einem weiteren hohen organisatorischen und Dokumentationsaufwand verbunden.
Summa summarum reden wir bei homöopathischen Einzelmitteln von einem Apothekenverkaufspreis zwischen 8 und 10 Euro je nach Hersteller für eine Potenz bis C30 pro Fläschchen (ABDA-Datenbank). Dieser Preis steht durchaus im Verhältnis zum Produktionsaufwand und ist, auch verglichen mit anderen Präparaten aus dem Bereich Selbstmedikation, nicht hoch.
HAB 2018 (Homöopathisches Arzneibuch)
http://www.pharmazie.com (ABDA Datenbank)
https://www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/ (Arzneimittelgesetz)
https://www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/__63c.html
S. Buchheim-Schmidt
Harald Walach
Weil ich in Debatten immer wieder die gleichen falschen Aussagen höre, stelle ich sie hier einmal zusammen mit den entsprechenden Argumenten, Daten und Fakten: Irrtümer, die über die Homöopathie geäussert werden, meistens mit entsprechenden Irrtümern über die Medizin gepaart. Ich hoffe, das entspannt die Debatte, die ich als unnötig polarisiert und wenig konstruktiv wahrnehme. Es geht weiter mit
Die Homöopathie kennt keine vernünftige Diagnostik, wohingegen die konventionelle Medizin eine klare Basis für ihre Therapie hat, nämlich die moderne Diagnostik
Diagnostik kommt vom Griechischen und heisst „gründliche Kenntnis“. Damit ist natürlich die gründliche Kenntnis der Krankheit gemeint, und dass diese Kenntnis vom Krankheitsbegriff abhängt, dürfte einsichtig sein.
Der Krankheitsbegriff der Homöopathie ist ein deskriptiv-phänomenologischer: Homöopathie beschreibt Krankheit als die Sammlung aller individuell vorliegenden Symptome. Wenn jemand einen Schmerz im Bauch hat, dann interessiert in der Homöopathie zunächst nicht die pathophysiologische Ursache des Schmerzes, sondern wie er sich genau anfühlt, wie er zu beschreiben ist, wann er sich bessert und verschlimmert, und vor allem, was genau ihn ausgelöst hat. So kann dann etwa ein Schmerz im Bauch, der aufgetaucht ist, nachdem man vom Tod der geliebten Großmutter erfahren hat eine ganz andere Bewertung erfahren als einer, der aufgetaucht ist, als man den Brief bekommen hat, dass man in einer Woche das Examen antreten muss, und der wird wieder anders gewertet als einer, der aufgetaucht ist, nachdem man beim ansonsten so guten Italiener ein vielleicht schon etwas merkwürdig riechendes Vitello tonnato gegessen hat, usw. Denn in jedem Falle führt die „causa“, also die Umstände,1 unter denen der Schmerz aufgetaucht ist, zu einer anderen Arzneimittelwahl, die in dem Fall weniger aus den Arzneimittelprüfungen selber, als aus der gründlichen Kenntnis der homöopathischen Materia medica herrührt, in die neben den Vergiftungssymptomen und den Arzneimittelprüfsymptomen auch die klinische Erfahrung eingegangen ist. Und diese lehrt, dass die Umstände einer akuten Erkrankung für die Wahl der Arznei wichtig sind. Daher kann der gleiche Typ von Bauchschmerz im Falle eines Verlustes einer geliebten Person mit großer Trauer z.B. zu der Indikation „Ignatia“ führen, im Falle der Antizipationsangst vielleicht zu „Gelsemium“ oder „Argentum nitricum“, und im Falle einer Magenverstimmung aufgrund einer Vergiftung vielleicht zu „Arsenicum album“, „Nux vomica“ oder „Okoubaka“, je nachdem, welche anderen Symptome noch vorhanden sind.
Zentral und wegweisend für die homöopathische Arzneimittelfindung ist die Gesamtheit der vorhandenen Symptome. Diese werden je nach Fall, ob akut oder chronisch, ob langdauernd oder kurzfristig, jeweils anders gewichtet und sind Teil eines komplexen Diskurses in der Homöopathie, der seit Hahnemann noch nicht beendet ist, welche Symptome am wichtigsten sind. Im akuten Fall sind das wie gesagt die verursachenden Umständen, die „causa“; dann vor allem die Modalitäten, also was ein Symptom verschlimmert, was es bessert; sodann die begleitenden anderen Symptome. Eine akute Magenverstimmung etwa, die mit Durchfall und Erbrechen einhergeht führt dann zu einer anderen Arzneimittelwahl als eine, die mit Kopfschmerz und Verstopfung einhergeht. Im ersten Fall wird man eher an Arsenicum album denken, im zweiten Fall eher an Nux vomica. Dann spielen vor allem bei akuten somatischen, aber auch anderen Erkrankungen, die psychischen Symptome, eine wichtige Rolle, weil sie differenzieren helfen. Wenn man etwa im Repertorium unter „trockenem Husten“ nachsieht, dann wird man dort ca. 200 Arzneimittel finden, die „trockenen Husten“ im Angebot haben. Das ist also ein relativ nutzloses Symptom, wenn es ohne weitere Charakterisierung kommt. Daher kann es ausschlaggebend sein, wenn man dazu weiß: Das ist der trockene Husten einer Person, die sonst immer fröhlich und gut gelaunt ist, aber seit diesem Husten plötzlich weinerlich und verzagt wirkt. Denn der ist anders zu behandeln, d.h. mit einer anderen Arznei, als der trockene Husten einer Person, die schon immer eher ärgerlich und leicht gereizt ist, aber seither nicht mehr auszuhalten, weil sie bei dem geringsten Anlass an die Decke geht.
Und so dienen die vorliegenden Symptome der Diagnostik: nämlich der Kenntnis des Arzneimittels, das im konkreten Falle Hilfe verspricht. Im Idealfall ist in der Homöopathie Diagnose identisch mit der therapeutischen Handlungsanweisung: Nimm das Arzneimittel, das die Gesamtheit der Symptome abdeckt: similia similibus curentur – Ähnliches soll man mit Ähnlichem heilen. Denn der Name des homöopathischen diagnostischen Ergebnisses ist der Name des Therapeutikums: der angezeigten, indizierten Arznei.
Der praktische Fallstrick ist dabei das unverfänglich erscheinende Wort von der „Gesamtheit der Symptome“ und vor allem ihrer Gewichtung bei der Wahl der Arznei. Hier herrscht – insbesondere bei der Behandlung chronischer Erkrankungen – innerhalb der Homöopathie ein buntes Gemisch von Meinungen und Schulen vor. Die einen stützen sich dabei mehr auf eine phänomenologische Essenz. Andere gehen ganz klassich vor und suchen die vorstechenden Symptome mit ihren Modalitäten. Wieder andere haben andere Systeme im Kopf. Hahnemann hat darauf hingewiesen, in seinem berühmten § 153 des Organons,2 dass vor allem die besonderen, herausragenden und eigentümlichen Symptome wichtig für die Arzneimittelwahl sind. Denn sie helfen zwischen konkurrierenden Arzneien differenzieren. Auf jeden Fall macht die Bewertung und das Verständnis, vor allem eines komplexen therapeutischen Falles, die homöopathische Kunst aus, auf die ich jetzt nicht eingehe. Denn das ist das, was ein guter homöopathischer Arzt in einer langen Zusatzausbildung lernt: wie mit den Symptomen umzugehen ist, wie man sie am besten versteht und ordnet, welche wann wichtig und wann unwichtig sind. Nur als kleines Beispiel: Psychische Symptome spielen in der Homöopathie immer eine große Rolle und können, vor allem im akuten Falle, den differenzierenden Ausschlag geben. Aber wenn der Hauptgrund der Therapie in einer Verstimmung der Psyche besteht, dann sind die wichtigen differenzierenden Symptome gerade nicht die psychischen, sondern die unscheinbaren körperlichen, ob etwa bei Traurigkeit jemand Appetit auf bestimmte Speisen hat oder eine sonst vorhandene Essens- oder Getränkevorliebe plötzlich verschwindet, etc.
Auf jeden Fall ist homöopathische Diagnostik im Rahmen des Möglichen immer auch die therapeutische Handlungsanweisung: das homöopathische Arzneimittel. Im Grunde ist homöopathische Diagnostik Mustererkennung. Sie versucht das Muster der vorhandenen Symptome mit dem Muster der Symptome, wie sie aus der Arzneimittellehre bekannt sind, in Deckung zu bringen. Dieser Vorgang ist naturgemäß „fransig“, „fuzzy“, wie das moderne Wort heißt. Denn viele Symptome sind Teil vieler Arzneimittelbilder, etwa der trockene Husten, oder Kopfschmerzen in der Stirne. Manche Symptome sind sehr typisch für bestimmte Arzneien, kommen also sehr häufig, oder fast immer vor, wie etwa der große Durst beim Arzneimittel Bryonia, oder die Durstlosigkeit bei Apis, so dass es schon fast ein Ausschluß ist, wenn jemand dieses Symptom nicht vorweist.
Moderne statistische Verfahren können solche komplexe Mustererkennungsprozesse erleichtern. Wir haben zum Beispiel einmal gezeigt, dass man mit einer sog. „Grade of Membership“- Analyse, die eine Art „fuzzy-set“ Statistik darstellt, Symptome von Belladonna von solchen unter Placebo in einer Arzneimittelprüfung trennen kann3. Andere haben gezeigt, dass man mit entsprechenden Verfahren durchaus statistische Trennungen zwischen solchen Kategorien vornehmen kann4,5. Das hat in der Konsequenz dazu geführt, dass heute mächtige Computerprogramme vorliegen, die mit entsprechenden Algorithmen die Mustererkennung zwischen Symptomen und Arzneimitteln unterstützen.
Wir halten fest: Homöopathie kennt sehr wohl eine klare Diagnostik. Deren Resultat ist die Handlungsanweisung: das indizierte Arzneimittel.
Und zur Mustererkennung: Wenn Sie sich das Computertomogramm am Anfang noch einmal anschauen finden Sie den Gorilla!
Wie sieht es mit der Diagnostik in der modernen Medizin aus? Diese ist ja klarerweise dafür bekannt, dass die Diagnostik der Behandlung vorausgeht. Zuerst muss die Ursache einer Erkrankung erkannt werden. Daher ist diagnostische, pathophysiologische Forschung einer der Haupttreiber medizinischer Forschung überhaupt. Denn, so das implizite Modell, wenn man erst die Ursache der Erkrankung erkannt hat, dann kann man sie auch – idealerweise ursächlich – behandeln. Auch hier stimmt die Theorie im Prinzip durchaus und ist vor allem für akute Krankheiten und Notfälle sehr einleuchtend: Ich erkenne diagnostisch, ob ein gebrochener Arm einfach gebrochen ist oder kompliziert und kann danach entscheiden, ob er durch eine einfache Schienung oder eine komplexere Prozedur (z.B. eine Operation) wieder gerichtet wird. Die Diagnostik, in dem Fall vermutlich Röntgen – oder MRT, legt eine klare Entscheidung nahe. So ähnlich ist es mit anderen akuten Zuständen auch: Ein akuter Herzinfarkt führt zunächst einmal zu klar indizierten therapeutischen Massnahmen, die gut untersucht und in aller Regel wirksam sind, von der pharmakologischen Blutverdünnung bis zur chirurgischen Unterstützungen.
Im Falle der Infektionskrankheiten hat die Diagnostik der Erreger dazu geführt, dass man auch hier entsprechende Maßnahmen entwickeln konnte: Antibiotika für bakterielle Erreger und spezifische antivirale Medikamente für bestimmte Viren. Mittlerweile kann sogar festgestellt werden, welche Erreger gegen welche Antibiotika resistent sind und wir können entsprechend differenziert reagieren.
Aber schon wenn es um komplexere klinische Entitäten geht, wird die Passung zwischen Diagnose und Handlungsanweisung vage. Denn nicht immer ist klar, wie eine zugrundeliegende Krankheit denn nun behandelt werden soll. Diagnostisch ist unsere moderne Medizin extrem weit fortgeschritten. Aber die Überlegung, wie aus der Erkenntnis der Ursachen auch eine Erkenntnis der Therapie folgt, ist in den meisten Fällen nicht zwingend. Hier sind ein paar Beispiele, um dies zu illustrieren:
In allen Fällen psychiatrisch-klinischer Diagnosen stellen die Diagnosen keinerlei kausale Erkenntnis bereit, sondern sind eine sich im Laufe der Jahre verändernde Ansammlung von Symptomen.6,7 Je nach Fachgebiet und Krankheit kann eine Diagnose eine deskriptiv-symptomatologische Kategorie sein, wie zum Beispiel die Diagnosen „Psoriasis“ oder „Fibromyalgie“, oder eine generisch-kausale wie die Diagnose „Arthritis“, oder „Krebs“, oder „atopische Dermatitis“, oder eine spezifisch kausale wie etwa „MRSA bedingte Sepsis“. In keinem Falle ist mit dieser Diagnose eine ein-eindeutige Handlungsanweisung verbunden. Vielmehr hängt es dann sehr von der vertieften Kenntnis des Krankheitsprozesses ab, wie die Handlungsanweisung aussieht. Daher gibt es Verzweigungen und Unterverzweigungen der Spezialisierung. Und oft führen auch diese Erkenntnisse zwar zu einem besseren Verständnis dessen, wie es zu der Krankheit hat kommen können, aber nicht immer zu einer Erkenntnis, wie man sie behandeln sollte. Das heisst: Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass in der konventionellen Medizin die Diagnose zwingend zur Behandlung führt. Zwar ist Diagnose eine Voraussetzung für gute Behandlung. Aber nicht immer führt eine gute Diagnostik zu einer guten und wirksamen Behandlung.
Ich will das an einigen Beispielen illustrieren:
Wir wissen z.B. mittlerweile, dass „Fibromyalgie“ ein generalisiertes Schmerzsyndrom darstellt. Lokale Entzündungen spielen dabei keine Rolle. Vielmehr handelt es sich höchstwahrscheinlich entweder um eine generalisierte autonome Dysregulationsstörung oder um eine zentrale Schmerzverarbeitungsstörung oder eine Mischung davon.8-12 Konsequenzen für die Behandlung: nur teilweise. Gestufte Bewegungstherapie kann helfen, kognitive Verhaltenstherapie kann helfen,13,14 manchmal kann sogar Meditation und Achtsamkeit helfen,15-19, obwohl sie anscheinend nicht die autonome Erregbarkeit verändert,20 auch Homöopathie kann helfen,21-24 aber ob sich von all dem die zugrundeliegenden Probleme bessern oder verändern, wissen wir nicht.
Atopische Dermatitis („Neurodermitis“), oder andere atopische Erkrankungen (Heuschnupfen, Asthma) sind Störungen der immunologischen Erregbarkeit, die zu lokalen Entzündungen führen. Wo sie herkommen, wird diskutiert. Vermutlich ist ein Teil erblich bedingt, ein anderer Teil auf frühkindliche Sensibilisierung mit Allergenen zurückzuführen bzw. auf mangelndes Allergentraining aufgrund zu steriler kindlicher Umwelt. Homöopathen behaupten schon seit bald einem Jahrhundert dass die atopischen Erkrankungen zusammenhängen und eine topische Behandlung der Haut bei Neurodermitis zu einer Gefahr von Asthmaerkrankung führt und dass eine homöopathische Asthmabehandlung über den Genesungsprozess zu einem Wiederaufflammen der Hauterscheinungen der atopischen Dermatitis führt, bis diese dann verschwindet.25 Das ist ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Sichtweisen sind: Für die konventionelle Medizin sind atopische Erkrankungen unterschiedliche Erkrankungen mit ähnlichem mechanistischem Hintergrund – Immunregulationsstörungen – für die Homöopathie sind sie verschiedene Gestalten einer Krankheit einer Person. Jedenfalls kann die Diagnose „atopische Dermatitis“ dazu führen, dass man die immunologischen Entzündungsprozesse lokal behandelt, lokal oder systemisch unterdrückt oder dass man versucht, potenzielle Allergene zu finden und diese zu meiden. Lange wurde den pharmakologischen Methoden der Vorzug gegeben, obwohl schon lange bekannt war, dass möglicherweise Nahrungsmittelunverträglichkeiten die Basis für eine atopische Störung bieten können.26 Weil die zugrundeliegende Immunologie höchst komplex und daher umstritten ist, wurde diese Erklärung bisher nicht allgemein akzeptiert, obwohl es dafür gute Gründe und einige Daten gibt.25,27,28 Wie also ist genau an dieser Stelle die „Ursache“ der Erkrankung definiert? Ist es der aktuelle Immunprozess, der zu einer Entzündung führt? Ist es die erworbene oder genetische immunologische Übererregbarkeit? Ist es die vorhandene oder fehlende Exposition? Ist es das Antigen im Essen? Die Eingrenzung der Ursache als solche ist, wenn man genauer hinsieht, gar nicht so einfach und eindeutig, genausowenig wie die therapeutische Konsequenz.
Selbst bei anscheinend klaren Diagnosen ist die Klarheit bald zerronnen, wenn man tiefer blickt und weiter denkt. Koronare Herzkrankheit – eine scheinbar klare Diagnose: Unterversorgung des Herzmuskels, weil zu wenig Blut fliesst, da die Koronararterien teilweise verstopft sind. Ursache? Nicht ganz klar. Immunologisch? Evtl. bedingt und angestossen durch mangelnde positive Beziehung?29 Das sprichwörtliche „gebrochene Herz“? Zu viel Fett im Blut? Oder zu viel Zucker? Oder beides?30,31 Oder zu wenig Bewegung? Oder zu viel Stress? Oder die falsche Persönlichkeit? Oder alles miteinander? Diagnose klar, Ursachen unklar. Handlungsanweisung? Operieren? Mit Bypass? Oder Stent? Oder gar nicht? Oder lieber mal medikamentös? Oder mit Ernährungsumstellung? Alles möglich, alles probiert worden, alles nicht so einfach und alles nicht ganz klar in der finalen Wirksamkeit.
Nicht dass ich jetzt nahelegen will: Dann lieber doch zu Kügelchen greifen, wenn jemand an koronarer Herzkrankheit leidet. Denn wenn ein Krankheitsprozess schon so weit fortgeschritten ist, dass es zu strukturellen Veränderungen im Organismus gekommen ist – Verengung der Gefässe, Krebswachstum, Arthrose wären typische Beispiele dafür – , dann ist es auch mit Homöopathika sehr schwer, eine Heilung zu erreichen. Aber die Beispiele zeigen: So einfach ist es mit der Entweder-Oder-Logik auch hier nicht.
Die Diagnose führt bei der Homöopathie idealerweise zum richtigen, indizierten Arzneimittel und das führt idealerweise zu einer Heilung oder Besserung. Nicht immer ist die Diagnose einfach. Nicht immer findet man das Arzneimittel beim ersten Griff. Und manchmal hilft auch das scheinbar best-indizierte Arzneimittel nichts. Auch das gibt es.
Aber das ist bei der konventionellen Medizin oft auch so. Manchmal ist die Diagnose klar und ergibt eine einfache, klare Handlungsanweisung. Sehr oft ist die Diagnose klar, aber die Handlungsanweisung hängt von der Kenntnis, der Vorliebe und den Umständen ab. Und manchmal hat man eine klare Diagnose und weiß nicht, was das nun konkret therapeutisch heißen soll.
Wir sehen: Die Medizin ist wie das Leben. Unaufgeräumt, weniger klar, als wir es gerne hätten und endet trotz aller Bemühungen meistens mit dem Tod.
Harald Walach
Weil ich in Debatten immer wieder die gleichen falschen Aussagen höre, stelle ich sie hier einmal zusammen mit den entsprechenden Argumenten, Daten und Fakten: Irrtümer, die über die Homöopathie geäussert werden, meistens mit entsprechenden Irrtümern über die Medizin gepaart. Ich hoffe, das entspannt die Debatte, die ich als unnötig polarisiert und wenig konstruktiv wahrnehme. Es geht los mit
Die therapeutischen Prinzipien der Homöopathie, das Ähnlichkeitsprinzip, das Prinzip der Potenzierung und das Individualisierungprinzip sind wissenschaftlich nicht bewiesen. Die therapeutischen Prinzipien der konventionellen Medizin hingegen sind rational ableitbar und belegt.
Die Homöopathie fußt im Wesentlichen auf drei therapeutischen Prinzipien, dem Ähnlichkeitsprinzip, dem Potenzierungsprinzip und dem Prinzip der Individualisierung. Das erste, das Ähnlichkeitsprinzip, ist dabei das zentrale, die andern beiden haben Hilfs- und Brückenfunktion. Das Ähnlichkeitsprinzip wurde von Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie so formuliert: similia similibus curentur – Ähnliches soll man mit Ähnlichem heilen (das „curentur“ ist grammatikalisch ein Konjunktiv und drückt damit die Aufforderung, die Injunktion aus). Fälschlicherweise meinen viele Kritiker, Hahnemann habe dieses Prinzip erfunden und aus seinem Chinarindenversuch abgeleitet. Bei diesem hatte er ein damals populäres Arzneimittel zur Fieberbekämpfung, Chinarinde, im Selbstversuch in massiver Dosis eingenommen und fieberähnliche Symptome bemerkt (wohlgemerkt: Es handelte sich um Symptome wie Schüttelfrost, nicht um veränderte Körpertemperatur).1 China wird in Form des Alkaloids Chinin heute noch verwendet in der Malaria-Behandlung (insbesondere bei ansonsten resistenten Erregern) und ist als Chinin auch traditioneller Bestandteil von Getränken wie Schweppes, die genau auf diese Erkenntnis zurückzuführen sind, dass China bei Fiebern wie Malaria nützlich sein könnte. Allerdings hat Hahnemann das Prinzip weder erfunden, noch aus diesem Versuch abgeleitet, noch hat dieser Versuch irgendeine andere als eine historisch-heuristische Funktion. Das Ähnlichkeitsprinzip gibt es schon bei Hippokrates. Es dürfte wesentlich älter sein. Denn schon der Telephos-Mythos, der noch vor-homerisch ist, bildet es ab (Abb. 1).2
In dieser Geschichte wird Telephos, der König der Mysier, von den Griechen, die auf dem Weg nach Troja sind, genauer vom Speer des Achill, verwundet. Als die Griechen abgezogen sind und die Wunde nicht heilen will, schickt Telephos nach Delphi um zu fragen, was er machen solle und erhält die kryptische Antwort: „Ho trosas kai iasetai – der, der die Wunde schlug, wird sie auch wieder heilen“. Das ist der erste kulturell nachweisebare Klang des Ähnlichkeitsprizips, wohl etwa um 1000 v. Chr. in unserer Kultur zu verorten. In der Geschichte reist Telephos dann ins Heerlager der Griechen und wird dort durch den Rost von Achilles‘ Speer – die Handlung in der Abbildung – behandelt und geheilt.
Die Ähnlichkeitsregel ist also uralter Bestand abendländischer Medizin. Hippokrates und die großen römischen Ärzte nach ihm kannten sie. Bei Paracelsus spielt sie eine wichtige Rolle, und Hahnemann kannte sie natürlich, weil zu seiner Zeit eine Paracelsus-Rennaissance im Gange war.3-5 Das Verdienst Hahnemanns war die Operationalisierung dieser Regel, durch die Arzneimittelprüfung am Gesunden. Aber auch das ist nicht Hahnemanns Erfindung. Andere große Ärzte seiner Zeit, Albrecht von Haller etwa, hatten sie schon – wenn nicht selber betrieben – dann doch gefordert.6 Hahnemann setzte diese Forderung nach einer empirischen Fundierung der Medizin um und kam so auf die Idee, dass die Ähnlichkeit, von der die Regel sprach zwischen den Symptomen der Kranken und den Symptomen besteht, die eine Substanz beim Gesunden erzeugen kann: Die Tollkirschenvergiftung führt zu geweiteten Pupillen, hochrotem Kopf, rasendem Puls und verrückten Ideen, großer Hitze und noch einigen anderen Symptomen. Kranke, die durch Belladonna, die Tollkirsche, geheilt werden, haben ähnliche Symptome. Deshalb ist diese Arznei sehr nützlich bei bestimmten Typen von Fiebern mit diesen Symptomen. Davon kann sich jeder überzeugen, der Kinder hat, die diese Art von Fieber häufig bekommen. Wenn die Symptome stimmen, geht das Fieber i.d.R. innerhalb weniger Stunden zurück und das Kind ist wieder putzmunter.
Hahnemann entwickelte das Potenzierungsprinzip erst später, indem er seine Arzneien aufbereitete und sie dabei verdünnte. Das war ein zunächst rein empirisch und intuitiv naheliegender Vorgang. Denn manche Stoffe, wie etwa Belladonna, oder Aconit, der Eisenhut, sind sehr giftig und konnten daher nur verdünnt gegeben werden. Es war daher naheliegend, damals apothkerübliche Methoden einer stufenweisen Verdünnung zu verwenden. Bevor man die heutigen Möglichkeiten der Analytik hatte, war man gut beraten stufenweise zu verdünnen. Manche Stoffe waren fest und konnten nur duch feine Verreibung löslich gemacht werden. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Hahnemann die kolloidale Löslichkeit: Feste Stoffe gehen nach Zerkleinerung und einer Verdünnung von etwa 100-3 (eine homöopathische Potenz von C 3) in einen löslichen Zustand über. Erst später experimentierte Hahnemann dann mit höher verünnten und verriebenen/verschüttelten Stoffen. Dabei wurden die Stoffe meistens mit einer Alkohol-Wasserlösung verdünnt, im Verhältnis 1:100 und dann geschüttelt. Davon wieder der hunderste Teil, usw. Diese Potenzierungsreihe nennt man Centesimal-Reihe (von lateinisch „centum – hundert“). Die Ordnungszahl gibt die Anzahl der Verdünnungs- und Verschüttelungsschritte an, also die Potenzierung. Eine C30-Potenz wäre dann also 30mal im Verhältnis 1:00 verdünnt und verschüttelt worden.
Was Hahnemann noch nicht wusste, aber ahnte: Ab einer Verdünnung von 10-23, D23 oder C12, ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich noch Moleküle der Ausgangssubstanz in der Arznei befinden, sehr gering. Ausserdem lösen sich durch die Potenzierung eine Reihe von Stoffen – Silikate, Bor, etc. – aus der Glaswand, so dass, molekular gesehen, homöopathische Potenzen eigentlich immer Stoffgemische sind, bei denen die Ausgangssubstanz nur eine sehr geringe Rolle spielt. Es gibt zwar Untersuchungen die zeigen, dass je nach Herstellung auch bei Hochpotenzen noch Ausgangssubstanz vorhanden ist, aber ich glaube es ist fair zu sagen: Die Substanz, also die Moleküle selber, dürften für die homöopathische Arzneimittelwirkung keine Rolle spielen. Das ahnte schon Hahnemann. Daher sprach er von der „geistartigen Wirkung“ der Arznei und sprach von „Dynamisierung“. Denn er machte die paradoxe Entdeckung: je höher verdünnt und potenziert die Arzneien, desto höher die Anforderung an die Ähnlichkeit zwischen Arzneiwirkung und Patienten-Symptomen, desto größer aber offenbar die Wirkung bei hinreichender Ähnlichkeit. Es ist diese große Paradoxie, die der Homöopathie den größten Spott einträgt. Und man muß fairerweise zugeben: Es gibt im Moment kein kluges Argument, mit dem man verstehbar machen kann, warum eine solche Arznei Wirkung entfalten könnte, ausser dem empirischen, dass man das immer wieder beobachtet hat. Nicht nur in der klinischen Praxis, sondern auch in kontrollierten Studien, in Tier- und in Pflanzenexperimenten. Warum? Kein Mensch weiss es. Es gibt ein paar abgedrehte Theorieversuche, auch von mir;7 aber ich finde nicht, dass irgend eine dieser Theorien ausreichend gut gestützt oder akzeptiert ist. Daher sollten wir fairerweise sagen: Warum potenzierte Arzneien wirken sollten, weiss kein Mensch. Wenn sie es allerdings tun, dann wäre dies eine wissenschaftliche Anomalie allererster Güte, die es zu erkunden gilt. Denn Wissenschaft schreitet in der Regel voran, indem sie sich darum kümmert wie man Anomalien, die nichts ins herrschende Weltbild passen, verstehen kann.8
Aus dem Ähnlichkeitsprinzip ergibt sich das Individualisierungsprinzip: Man wendet Arzneien nicht für bestimmte Krankheitsentitäten an – also Belladonna bei Fieber und irgendwas anderes bei Kopfschmerzen – sondern bei Symptomkonstellationen. Und diese sind mehr oder weniger individuell. Zwar gibt es immer wieder Typen – daher kann man auch häufig vorkommende Arzneimittel bei bestimmten Krankheitsentitäten zusammengeben und eine Art Schrotschussarznei basteln, die dann vielleicht bei 70% aller Zustände funktioniert – aber die rechte Kunst ist es, für die Gesamtheit aller Symptome eines Patienten, auch die in der Vergangenheit vorhandenen oder die scheinbar nicht mit der Krankheit in Verbindung zu bringenden, eine passende Arznei zu finden. Dieses Prinzip wurde wohl von der Homöopathie zum ersten Mal so konsequent in der Medizin angewandt.
Nun, wie sieht es in der modernen konventionellen Medizin aus. Fangen wir von hinten an. Der neueste theoretische Schrei der modernen Pharmakologie ist die „personalisierte“ oder „individualisierte“ Medizin. Sie hat damit, Halleluja, ein Prinzip entdeckt, das die Homöopathie schon seit über 200 Jahren anwendet. In der modernen Medizin ergibt sich dies aus der Einsicht, dass es sehr unterschiedliche genetische Typen gibt, die die enzymatische Verstoffwechslung von pharmakologischen Substanzen definieren und dass es genetische Untertypen von Krankheiten, z.B. Tumoren, gibt, die verschiedene therapeutische Ziele bieten. Wir kennen das: Die einen nehmen irgendeine Tablette und haben schreckliche Nebenwirkungen, die anderen nehmen drei davon und merken nichts. Der Hintergrund ist die enzymatische Effektivität im Umbau der Substanzen: Wieviel davon für den Organismus verfügbar ist bestimmt der individuelle Metabolismus. Aus dieser Einsicht heraus lernt man langsam zu verstehen, dass man pharmakologische Rezepturen fein abstimmen muss, eben individualisieren. Bei Tumoren hat man begonnen zu verstehen, dass sie ganz unterschiedliche genetische Marker tragen, die sie für unterschiedliche therapeutische Massnahmen empfindlich machen. Das nennt sich dann „personalisierte Medizin“: man beginnt den individuellen Konstitutionstyp eines Menschen aufgrund seiner Genetik bei der Therapie in Rechnung zu stellen. Der Unterschied zur homöopathischen Individualisierung besteht darin, dass die Homöopathie auf der phänomenologischen Oberfläche bleibt, also die Ebene der Symptomatik für die Individualisierung verwendet und die moderne Medizin diese versucht aufgrund der Genetik besser zu verstehen. Ich finde: Das ist beides Individualisierung, für den Patienten gut und sinnvoll und muss sich nicht ausschließen. Nicht entweder oder, sondern sowohl als auch.
Die moderne Medizin verwendet auch das Ähnlichkeitsprinzip und in Grenzen das Potenzierungsprinzip. Weniger sichtbar zwar, aber immerhin. In der Allergologie wird etwa damit gearbeitet, dass Substanzen, die eine Allergie verursachen, in absteigender Verdünnungsreihe als Medikamente verabreicht werden. Hier wird der umgekehrte Weg wie bei der Homöopathie beschritten: Man sucht die Verdünnung des Allergens, die gerade keine oder nur eine minimale Allergie auslöst, gewöhnt den Organismus daran und nimmt dann die nächst höhere Konzentration. Man kann auch die Psychotherapie als eine Anwendung des Ähnlichkeitsprinzips verstehen, zumindest bestimmte Formen: Der Krankheitsauslöser wird in veränderter Form präsentiert – durch Verstehen, durch Imagination, durch sprachliche Verarbeitung aufbereitet.
Abgesehen davon verwendet die Medizin als praktische Wissenschaft sehr viele Erkenntnisse und nicht nur einen einzigen Erkenntnisweg. Es ist ein weit verbreitetes (Selbst-)Missverständnis der Medizin, sie sei eine Naturwissenschaft. Das ist sie definitiv nicht.9-11 Sie ist eine Handlungswissenschaft, die u.a. naturwissenschaftliche Erkenntnisse verwendet, aber auch andere, z.B. sozialwissenschaftliche und psychologische. Das führt dazu, dass es nicht DEN Erkenntnisweg in der Medizin gibt, oder DIE rationale Therapeutik. Es gibt viele. Einer von den vielen ist der, den die moderne Pharmakologie beschreitet. Dort versucht man, aufgrund pathophysiologischer Erkenntnisse zu verstehen, wie man intervenieren kann. Dann werden Substanzen entwickelt, die etwa ein bestimmtes Enzym blockieren, oder einen bestimmten Rezeptor aktivieren. Dieser Weg funktioniert so einigermassen, ist aber erstens alles andere als rational, ist zweitens nicht immer zielführend und drittens nicht sehr kostengünstig. Denn welche der Erkenntnisse aufgegriffen werden, hängt oft davon ab, wo man sich einen großen Markt verspricht. Dort wird dann geforscht. Vieles, was erforscht wird, funktioniert im Tiermodell ganz gut. Aber nur sehr wenig von dem, was dort funktioniert, findet seinen Weg in die klinische Anwendung. Einfach deshalb, weil es beim Menschen eben nicht funktioniert oder weil das Ganze doch etwas komplexer ist als anfangs gedacht. Alles in allem betrachtet ist es ein extrem aufwändiger Weg. Wir begehen ihn, weil er sich eben so eingebürgert hat und weil wir meinen, er sei gut. Ob er das wirklich ist, wage ich sehr zu bezweifeln.
Hier sind zwei Beispiele, die sich vermehren liessen, und die zeigen, dass es mit der vermeintlichen Rationalität nicht so weit her ist:
Irgendwann – im Laufe der 60er Jahre oder so – kam die Idee auf, psychiatrische Erkrankungen seien Erkrankungen des Gehirnstoffwechsels. Die biologische Psychiatrie war geboren. Auf dieser Idee aufbauend entwickelte man eine ganze Reihe von Substanzen, die die vermeintlichen Entgleisungen des Gehirnstoffwechsels wieder richten sollten. Berühmt geworden sind die selektiven Serotonin-Reuptake Inhibitoren (SSRIs). Diese wurden übrigens ursprünglich, das weiß kaum jemand, für ganz andere Probleme entwickelt: zur Schmerztherapie; später dachte man, sie könnten bei Gewichtsproblemen nützlich sein, bis wer auf die Idee kam sie für Depression einzusetzen. Dann wurden sie als „happy pills“ vermarktet. Spezialisten in der Psychiatrie geben seit einiger Zeit unumwunden zu dass die Serotoninhypothese bankrott sei12,13: Sie sei wissenschaftlich nie bewiesen, sie funktioniere therapeutisch nicht richtig und das Festhalten an ihr blockiert den Fortschritt. Die modernen Antidepressiva sind manchmal Serotoninwiederaufnahmenhemmer, die Serotonin zur Verfügung stellen, sie sind manchmal Serotoninblocker, die Serotonin aus dem System entnehmen, sie sind manchmal ganz anderer Natur.14,15 Wo genau sind hier die Rationalität und der Fortschritt, frage ich mich? Möglicherweise ist Depression etwas ganz anderes? Eine komplexe Störung, bei der Traurigkeit ein Symtpom ist? Manchmal durch Ernährung verursacht, manchmal durch soziale Umstände, manchmal durch persönliches Fehlverhalten, manchmal genetisch, manchmal durch ein Zusammenwirken all dieser Faktoren. Und wer sagt, dass eine Krankheit auf der Ebene zu behandeln sei, auf der sie sich äußert? Wenn man etwas tiefer schürft merkt man schnell, wie tönern die Beine und wie schief sie sind, auf denen dieses Gebäude ruht. Und überlegt man, wieviel Geld nicht nur die Industrie, sondern die öffentliche Hand durch Subventionierung dieses Modells in die Entwicklung dieses Wolkenkuckucksheims der biologischen Psychiatrie, der Serotoninhypothese der Depression zumal, gepumpt hat, dann muss man sich wahrlich fragen, wie rational es hier wirklich zugeht.16
Ein zweites Beispiel: Die Alzheimer Demenz wird gemeinhin als eine komplexe Entzündung des Gehirns verstanden, die durch die Ansammlung von Amyloid-Beta, einem Protein und die Hyperphosporylierung von Tau, einem anderen Protein, ausgelöst wird, wodurch eine Entzündungspirale entsteht, die zum Untergang der Neuronen und am Ende zur Demenz führt.17 Aufbauend auf diesem biologischen Modell wurden Arzneien entwickelt, die entweder die Actylcholinesterase hemmen sollen – denn Acetylcholinerzeugende Neuronen gehen zuerst zugrunde -, oder die das Erregungsniveau durch den neurotoxischen Transmitter Glutamat hemmen sollen. Oder Impfungen gegen das Amyloid Beta. Alle diese Ansätze haben im Tierversuch sehr gut funktioniert, sind theoretisch-pathologisch irgendwie einsichtig und rational, funktionieren aber beim Menschen gar nicht oder nur in Grenzen. Die Impfversuche wurden eingestellt. Die auf dem Markt befindlichen Medikamente haben sehr schwache Wirkungen und erhebliche Nebenwirkungen. Seitens der pharmazeutischen Firmen, die sich eine Weile am Rennen um die Blockbusterarznei beteiligt haben, wurde ein höherer dreistelliger Milliardenbetrag in die Entwicklung gesteckt. Das Resultat ist ärmlich: es ist keinerlei pharmakologische Therapie in Sicht.18 Die vier derzeit zugelassenen Arznein sind allenfalls kurzfristig palliativ und in keinem Fall therapeutisch dauerhaft wirksam.19 Alternative Denkrahmen und Handlungsansätze gibt es,20,21 sie werden aber derzeit nicht priorisiert. Warum? Vermutlich weil alle auf den großen pharmakologischen Durchbruch warten und weil das herrschende Denkmodell die Phantasie hat verarmen lassen – scheint mir.
Das waren zwei Beispiele im Kurzdurchgang die zeigen, dass es um die theoretisch-therapeutische Rationalität in der modernen Medizin nicht so gut bestellt ist, wie man das gerne hätte. Ich weiss, das ist ein bisschen unfair: Ich habe zwei deutliche Negativbeispiele gewählt. Ich finde aber, sie sind durchaus repräsentativ. Denn sie betreffen weit verbreitete Probleme. Es gäbe viele andere Beispiele: die mangelnde Wirksamkeit pharmakologischer Ansätze bei der Schmerztherapie,22-25 die langfristigen Nebenwirkungen vieler akut sehr gut wirksamer Therapien,26 die Tatsache, dass die Krebsinzidenz steigt trotz eines nunmehr Dekaden währenden „Krieges gegen den Krebs“,27,28 die Tatsache, dass immer mehr Kinder mit ernsthaften neurologischen Störungen diagnostiziert werden,29,30 usw. Es geht mir auch nicht darum, die moderne Medizin schlecht zu reden sondern plausibel zu machen: Was im Akutfall gut funktioniert ist nicht unbedingt auch wirksam und hilfreich im chronischen oder funktionellen Fall. Das Denkmodell der Medizin, so hilfreich es im Notfall ist, erweist sich als Bumerang, der im chronischen und funktionellen Fall auf denjenigen zurückkommt, der ihn verwendet hat. Und das erinnert mich an die alte Geschichte von dem Mann, der sich darüber beschwerte, dass er seinen alten Bumerang nicht los wird, weil er immer wieder zurückkommt…
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